Das Geheimnis des Wachsens
Wozu muss eine Pflanze wachsen, wenn sie doch wieder verwelken? Weshalb muss jeder Mensch wachsen, gross und erwachsen werden? Nur um alt zu werden und zu sterben? Weshalb müssen Firmen und Staaten mächtig werden und wachsen, wenn sie doch früher oder später vom Erdboden verschwinden werden oder von anderen Staaten und anderen Firmen verschlungen und verdaut werden. Manche Pflanze ist heute gross, voll im Saft und alle bestaunen sie. Nächstes Jahr ist nichts von ihr übrig als eine blasse Erinnerung. Oder das grossartige Kunstwerk, das gewaltige Denkmal, das die Massen erregt: Morgen sind diese Massen schon tot, die Begeisterung verschimmelt und das Denkmal marode. Die Natur ist manchmal grausam. Ihr liegt nichts am einzelnen Kürbis, am einzelnen Mensch, am einzelnen Kopfsalat oder Denkmal. Es scheint, dass es der Natur nur um die Erhaltung der Art geht oder nicht einmal das: Der Natur geht es nur darum, dass ihre Gesetze gelten und nichts hier ewig ist, sondern alles in steter Bewegung von Werden und Vergehen. Die Natur ist unsere Gönnerin und Feindin zugleich. Denn wir nähren und laben uns an ihr und gehen doch eines Tages an ihr zugrunde? Oder vielleicht doch nicht?
Die Kultur des Menschen hat ihr Ebenbild in der Agricultura. Das Wort bedeutet: Die Bebauung des Landes. Der Kult der Agricultura ist der Schutz und die Pflege des Wachsens des Getreides, der Tiere. Denn eines Wissen wir: Das Wachsen selbst, das kann der Mensch nicht realisieren. Er kann nur das Wachstum schützen und pflegen. Das Wachstum kommt aus den Pflanzen selber, aus der Natur, ist ein Geschenk. Oder in unserer menschlichen Erfahrung: Wir wachsen und werden von selber gross. Weder liegt es daran, dass wir uns besonders gescheit und mit ausgeklügelten Vitaminplänen ernähren. Noch weil wir uns ständig einreden:“Ich will wachsen und gross werden“. Wachsen ist das, was hier auf Erden von selbst geschieht.
Doch manchmal denkt man, man müsse das Wachstum selber machen und glaubt auch, dass die Dinge in der Welt wachsen, weil man an ihnen arbeitet. Und man denkt dann auch, man hätte die Frucht dieser Arbeit selber erschaffen und sie deshalb auch verdient. Das ist die Haltung von Kain, der den Abel erschlägt. Die Leistung, die das Wachsen und die Frucht sich selber zuschreibt, erschlägt das Empfinden des Beschenkt -seins. Das Denken erschlägt das Danken. Wir sind nicht der Schöpfer, wir sind eine Geschöpf.
So könnte man auch das Wachsen des Menschen betrachten. Die Kultur ist der Schutz und die Pflege des Wachsens des Menschen. Dazu muss man den Menschen kennen. Jeden einzelnen - in seiner Vielfalt, Verschiedenheit und Gleichheit zugleich.
Wir haben eine eine interessante Geschichte der Menschheit. Früher waren Pfahlbauern, primitive Bauern, heute sind wir die modernen Menschen.Die Technik hat enorme Fortschritte gemacht - aber wie sieht es mit dem Zusammenleben von verschiedenen Kulturen und Rassen aus? Aber auch wir beginnen (fast) bei Null und müssen unsere eigenen Erfahrungen machen.Erfahrung ist nur teilweise übertragbar. Jeder von uns lebt in seiner eigenen Welt, in seiner eigenen Umgebung und Zeit. Und das einzige, was uns mit den Ahnen verbindet ist die Geschichte, die Tradition, nämlich: Dass wir nicht alles selber herausfinden, erfahren und erleben müssen, sondern dass wir vieles schon erfahren haben durch die Tradition des Lebens unserer Vorfahren und nun Neues erfahren können; aber vieles selbst erleben müssen oder dürfen. Doch so Neu ist das Neue meist nicht, das wir erleben. Neu ist nur eine Form der Vergesslichkeit. Wenn wir vieles vergessen scheint uns das immer wieder neu. Je mehr wir uns Erinnern und unsere Geschichte vergegenwärtigen, desto eher könnten wir merken, dass das was wir erleben nicht neu ist, es ist ewig menschliches Erleben, aber dass die Art, wie wir es erleben, unser Leben ist, einzig und entscheidend.
Das Gescheiterte kennen wir nicht immer. Es ist uns ein Geheimnis und es ist das, was uns wirklich weiter bringt und woraus wir lernen. Irgendwie ist alles Gescheiterte da in unserer Welt. Das Gescheiterte gehört zum Wesen des Überflusses. Vergeudung oder Freude des Überflusses? Wie schauen wir auf die Natur. Gönnen wir uns den Überfluss oder verachten wir ihn als sinnlose Verschwendung? Das Wichtigste ist doch die Liebe. Es ist ein Leichtes, etwas zu verneinen, was man nur glauben kann. Es ist schwierig, gegen alle Verneinungen in ganz nutzloser Weise dennoch daran festzuhalten, treu zu bleiben. Denn Treue, Vertrauen und Glauben haben ihr Fundament nicht in einem kausalistischen, logisch beweis- und begründbaren Systemen. Liebe, Treue und Vertrauen sind auf dem Geheimnis der Voraussetzungslosigkeit errichtet und dauern ewig.
Nur die Liebe lässt wachsen ....
© Dr. Manfred K. Zeller 2004